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Der Naziparagraph 219a wird endlich abgeschafft – wann ist 218 dran?
Die neue Regierung will endlich § 219a des Strafgesetzbuches - also das „Werbeverbot für Abtreibungen“ - abschaffen. Diese Entscheidung ist längst überfällig, doch auch § 218 muss ersatzlos gestrichen, das heißt der Abbruch gänzlich legalisiert werden. Ein Blick in die Geschichte der beiden Paragraphen verdeutlicht, dass sie in erster Linie bevölkerungspolitische, durch den sogenannten „Lebensschutz“ vermeintlich legitimierte Herrschaftsinstrumente darstellen.
Das Werbeverbot und seine Geschichte: Der Paragraph 219a
Marco Buschmann, der neue Bundesjustizminister von der FDP, hat angekündigt, den Paragraphen 219a des Strafgesetzbuches, in dem das sogenannte „Werbeverbot für Abtreibungen“ geregelt ist, schleunigst streichen lassen zu wollen. Bisher hatte es dieser berüchtigte Paragraph Ärzt:innen äußerst schwer gemacht, Informationen über Abtreibungen preiszugeben. Selbst wenn sie auf ihren Webseiten lediglich erwähnt hatten, dass sie Abbrüche durchführten, wurde dies als „Werbung“ für Abtreibungen betrachtet und sie konnten auf Grundlage von § 219a strafrechtlich verfolgt und verurteilt werden. Dabei waren insbesondere selbsternannte Lebensschützer:innen, d.h. Personen aus erzkonservativen, reaktionären, christlich-fundamentalistischen und rechten Kreisen den über Abtreibung informierenden Ärzt:innen auf den Fersen und zeigten alles, was letzteren auf Grundlage von § 219a als „Werbung“ ausgelegt werden konnte, bei der Staatsanwaltschaft an. Besonders zwei Personen traten dabei in Erscheinung: Der in evangelikalen und sehr rechten Kreisen verkehrende Katholik und ehemalige Industriekaufmann Klaus Günter Annen hatte es sich zum Hobby gemacht, Ärzt:innen auf Grundlage von § 219a anzuzeigen. Er setzt Abtreibungen mit dem Holocaust gleich und spricht deshalb auch von „Babycaust,“ was ihm zuletzt 2018 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verboten wurde. Sein Mitstreiter ist der 1990 geborene Yannic Lukas Hendricks (mit Pseudonym Markus Krause), der sich ebenfalls den „Lebensschutz“ und das Anzeigen von Ärzt:innen zur Lebensaufgabe gemacht hat. Das Ironische an dieser von Annen und Hendricks veranstalteten Verfolgungsjagd ist, dass ihr „Engagement“ auf längere Sicht nicht zu mehr „Lebensschutz“ geführt hatte, sondern zur kritischen Infragestellung des Paragraphen 219a. Sie selbst hatten erst dem patriarchalen Paragraphen zur Prominenz verholfen und damit indirekt den Weg für dessen Abschaffung geebnet.
Berühmtheit erlangte der Fall der Ärztin Kristina Hänel, die im Jahr 2017 vom Amtsgericht Gießen zu einer Geldstrafe verurteilt worden war, da sie auf ihrer Webseite erklärt hatte, Abbrüche vorzunehmen. Bei der Staatsanwaltschaft angezeigt wurde sie vom bereits genannten Yannic Lukas Hendricks. Die Verurteilung hatte eine breite öffentliche Debatte zur Folge, im Zuge derer Rufe nach einer Abschaffung oder Änderung des Gesetzes laut wurden. Im Frühjahr 2019 wurde auf Initiative der Bundesregierung vom Bundestag die Ergänzung des Paragraphen um den Absatz 4 beschlossen. Dass sie Abbrüche vornehmen, dürfen Ärzt:innen, Krankenhäuser und Einrichtungen seither erwähnen. Genauere Informationen zu Methoden zu veröffentlichen, bleibt ihnen weiterhin verboten – jedoch können sie auf weiterführende Informationsangebote neutraler Stellen verweisen. Nach der Reform des Paragraphen 219a und aufgrund der von Hänel eingelegten Revision hob das Oberlandesgericht Frankfurt am Main das Urteil gegen sie auf. Dennoch wurde sie im Dezember 2019 erneut zu einer Geldstrafe verurteilt, da ihr Verhalten auch unter Berücksichtigung des reformierten Gesetzes einen Straftatbestand darstellte. Ihre Revision dagegen wurde Ende 2020 verworfen und das Urteil gegen sie somit rechtskräftig.
Derartige unsägliche Urteile sollen unter der neuen Bundesregierung nun also bald der Vergangenheit angehören. Zumindest steht das auf S. 116 des Koalitionsvertrags. Es ist höchste Zeit, der Kriminalisierung einer ganzen Berufsgruppe und dem Vorenthalten von grundlegenden Informationen über Schwangerschaftsabbrüche ein Ende zu setzen. Möglicherweise wäre es ganz allgemein geboten, alle Gesetze, die aus den 12 Jahren Naziherrschaft stammen, einer Prüfung zu unterziehen. Richtig gehört! Der Paragraph 219a ist ein Gesetz, das am 1. Juni 1933 von den Nazis verabschiedet wurde. Dass sie das Werbeverbot, über das bereits in der Weimarer Republik und im Kaiserreich diskutiert worden war, in den ersten sechs Monaten ihrer Diktatur verabschiedet hatten, verdeutlicht, wie wichtig ihnen „der Schutz des Lebens“ war, gesetzt dieses Leben galt in ihren Augen als „arisch“, gesund, sittlich und antikommunistisch. Neben der ideologischen Überhöhung der Mutterschaft, die der Sicherstellung und dem Fortbestand von deutschem „Blut und Boden“ diente, hatte die Erschwerung von Abbrüchen ganz pragmatische Gründe: Das Hitlerreich brauchte nämlich für seine großdeutschen Fantasien, die ohne militärische Aggressionen nicht umsetzbar waren, zwingend neue Soldaten. Analog zur Aufrüstungsindustrie musste also die Geburtsmaschinerie angeworfen werden. Der „Lebensschutz“ der Nazis war letztlich also ein Mittel zur Vernichtung all desjenigen Lebens, was als feindlich oder nicht arisch angesehen wurde.
Nun werden einige sagen, dass die Entstehungsgeschichte eines Gesetzes selbiges noch längst nicht diskreditiert. Auffällig ist jedoch, dass auch heutige Abtreibungsgegner:innen nicht selten einer rechten Weltanschauung anhängen. Und damit sind nicht nur einzelne rechte Akteur:innen gemeint, die sich für das Verbot von Abtreibungen stark machen, wie etwa Beatrix von Storch von der AfD oder bekannte Neonazis wie Ralf Löhnert, die sich gerne dem jährlich stattfindenden „Marsch für das Leben“ anschließen, sondern auch die strukturellen Überschneidungen und Vernetzungen zwischen der „Lebensschutzbewegung“, der AfD und dem Reichsbürgermilieu. Ferner sei angemerkt, dass auch heutige Abtreibungsgegner:innen nicht jedes Leben gleichermaßen für schützenswert halten. Sonst würden sie vielleicht in ihrem „Marsch für das Leben“ auch diejenigen mitmeinen, die unschuldig und von der Politik allein gelassen an den EU-Außengrenzen oder auf dem Mittelmeer sterben. Dass diese Schutzbedürftigen von rechten Abtreibungsgegner:innen nicht als solche anerkannt werden, verdeutlicht ihr selektives, völkisches Verständnis von schützenswertem Leben: „Geschützt“ und sichergestellt werden soll die weiße Nachkommenschaft „Der große Austausch“ – eine rechte Verschwörungstheorie, nach der „die weiße Rasse“ Schritt für Schritt durch Geflüchtete ersetzt werden soll, werde so verhindert.
Selbstverständlich sind nicht alle Abtreibungsgegner:innen Verschwörungen verfallen oder stramme Neonazis. Wer allerdings mit Nazis marschiert, macht sich – zumindest symbolisch – mit diesen gemein. Der fundamentalistische Lebensschutz schießt sich jedoch zum Glück manchmal selbst ins Bein. Im Falle des Paragraphen 219a war die Hetzjagd zweier rechter Lebensschutzaktivisten auf Ärzt:innen und die damit einhergehende öffentliche Aufmerksamkeit der Sache der Pro-Choice-Bewegung zuträglich. Letztlich bedurfte es aber des steten Kampfes von Ärzt:innen wie Kristina Hänel und feministischen Aktivist:innen, um eine gesamtgesellschaftliche Diskussion loszutreten. Erst die neue Ampel-Koalition schafft den Paragraphen nun gänzlich ab. Damit ist zwar eine Barriere abgebaut und ungewollt Schwangere kommen an die Informationen, die ihnen, wie bei jeder anderen medizinischen Leistung auch, zustehen. Mehr Informationen machen die Lage für ungewollt Schwangere in Deutschland aber de facto nicht weniger prekär. Solange § 218 des Strafgesetzbuches weiter besteht, nach welchem ein Schwangerschaftsabbruch nach wie vor illegal und nur unter streng geregelten, paternalistischen Ausnahmen straffrei bleibt, ist die Autonomie von Frauen und allen anderen, die schwanger werden können, anfechtbar.
Der historische Hintergrund des Abtreibungsparagraphen 218
Auch der Paragraph 218 des Strafgesetzbuches kann übrigens mit einer illustren Geschichte aufwarten: Er ist ein Produkt des deutschen Kaiserreiches und wurde gleich zu Beginn desselben eingeführt. Der Sieg der Preußen gegen Frankreich hatte im Jahr 1871 die Gründung des Reiches ermöglicht – der Paragraph trägt also noch die Nachwehen des Krieges um europäische Großmachtstellung in sich. Denn um die Hegemonie des Kaiserreiches auch künftig in Europa verteidigen zu können, galt es, genügend Soldaten und Arbeiter:innen hervorzubringen. Schwangerschaftsabbrüche zu kriminalisieren war ein erster Schritt dies zu gewährleisten. Interessant ist übrigens, dass die vorher geltende, eher vom Kirchenrecht inspirierte Gesetzeslage viel weniger streng war. In der kirchenrechtlichen, auf Aristoteles basierenden Auslegung wurde der Fötus noch als Teil des Mutterleibes gesehen und eine individuelle Seele, die als Indikator eines Menschen galt, entwickelte sich, dieser Lehre zufolge, erst im späteren Verlauf der Schwangerschaft. Dies verdeutlicht nochmal, dass der Paragraph 218 in erster Linie bevölkerungspolitisch motiviert war. Bevölkerungspolitik allerdings geht immer zu Lasten von gebärfähigen Menschen – restriktive Abtreibungsgesetze sind ein misogyner Gewaltakt: Sie führen nicht zu weniger Abtreibungen, sondern dazu, dass diese unsicherer werden und mitunter für die schwangere Person tödlich enden. Die Frage nach der Kontinuität zwischen der kolonialen Gewalt des Kaiserreichs und der Gewalt des Naziregimes im Holocaust, die momentan im Zuge des zweiten Historikerstreits wieder heftig diskutiert wird, lässt sich demnach – zumindest hinsichtlich der misogynen Gewalt der beiden Systeme – ausdrücklich mit ja beantworten.
Neben der Frauen- und Queerfeindlichkeit, die Kaiser- und Nazireich im Kampf um „Lebensschutz“ einte, muss auch betont werden, dass Gesetze, die Abtreibungen erschweren oder gänzlich verbieten, in erster Linie die niederen Klassen und Menschen in ohnehin schon prekären Lagen treffen. Denn sie sind es, denen die Kosten für ein ungewolltes Kind finanziell am meisten zusetzen, denen aber zugleich das nötige Geld fehlt, sich der gesetzlichen Restriktion zu entziehen. In der Weimarer Republik war in Opposition zu derartigen misogynen und klassistischen Gesetzen die radikale Frauenbewegung wiedererstarkt. Neben dem Kampf um das Wahlrecht bestand im Recht auf sichere Abtreibung für alle, unabhängig von der Klassenzugehörigkeit, eines ihrer Hauptanliegen. Erreicht wurden zunächst allerdings lediglich eine Strafmilderung und die Herabstufung vom Verbrechen zum Vergehen. Im „dritten Reich“ wurde dies wieder rückgängig gemacht und die Gesetze nochmal verschärft. Auf Abtreibungen, die nun als „Angriffe auf Rasse und Erbgut“ verstanden wurden, stand jetzt die Todesstrafe für diejenigen, die diese gewerblich durchführten.
Eine deutliche Reform von § 218 StGB ergab sich erst im Laufe der sogenannten sexuellen Revolution und Student:innenbewegung, die Ende der 1960er Jahre ihren Ausgang nahmen. Im Sommer 1971, also genau 100 Jahre nach Einführung des Paragraphen 218, bekannten sich in der Zeitschrift „Stern“ 347 Frauen – unter ihnen viele Prominente – dazu, abgetrieben zu haben. Die Folge waren Massendemonstrationen gegen den Paragraphen. Mitte 1976 trat dann § 218a in Kraft, der § 218 ergänzen sollte. In jenem war geregelt, dass ein Abbruch durch einen Arzt nicht mehr als strafbar galt, wenn die schwangere Person dem Abbruch zustimmte, eine medizinische, kriminologische oder durch Not bedingte Indikation vorlag.
In der DDR wurde nach vorangegangenen Protesten der Schwangerschaftsabbruch 1972 bis zur 12. Schwangerschaftswoche ohne jedwede Einschränkung oder Hürde legalisiert. Die rechtliche Lage war also diesbezüglich weiter als sie es in der BRD damals war. Aber auch heute noch ist die gesetzliche Lage hierzulande restriktiver als sie es in der DDR war. Nach dem Fall der Mauer geriet die BRD deshalb unter Druck, da die DDR-Bürger:innen – verständlicherweise – ihre körperliche Selbstbestimmung nicht wieder aufgeben wollten. Die Lösung in Form eines neuen Gesetzes kam 1995 und war eine Kombination aus BRD- und DDR-Gesetz, das bis heute gilt. Es verpflichtet die schwangere Person dazu, sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff, der lediglich in den ersten 12 Wochen der Schwangerschaft stattfinden darf, einer Beratung (§ 219 StGB) zu unterziehen (§ 218a Abs. 1 StGB). Hinzu kam eine medizinische und kriminologische Indikationenlösung (§ 218a Abs. 2 u. 3 StGB), d.h. bei Gefahr für das psychische und physische Wohl der schwangeren Person sowie im Falle, in dem die Schwangerschaft Folge eines (juristisch belegten) Gewaltaktes war, bleibt der Abbruch straffrei.
Die Situation ist nach wie vor prekär
Alles halb so schlimm also, werden jetzt einige sagen: Schwangere Personen können in Deutschland selbst und frei über ihren Körper verfügen und müssen vor dem Abbruch nur ein paar Kleinigkeiten wie etwa die Beratung beachten. Denjenigen, die so denken, sei § 219 StGB ans Herz gelegt; der hat es in sich:
„Die Beratung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens. Sie hat sich von dem Bemühen leiten zu lassen, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen; sie soll ihr helfen, eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu treffen.“
Diese Anfangssätze des ersten Absatzes zeichnen das Bild einer schwangeren Person, die Verantwortung und Gewissenhaftigkeit nur mithilfe des Staates und einer von ihm autorisierten Beratungsinstanz an den Tag legen kann. Vater Staat muss das arme, in eine Notlage geratene Persönchen an die Hand nehmen und ihm aufzeigen, was der richtige Weg ist: Gebären für das Vaterland! Damit ist die Beratung wortwörtlich paternalistisch angelegt. Machen wir uns nichts vor; auch heute geht es dem Staat nicht um den „Schutz des Lebens,“ sondern darum, den demographischen Wandel abzufedern, ergo das Bevölkerungswachstum wieder anzukurbeln. Uns fehlen Auszubildende, Steuerzahler:innen und Menschen, die in die Rentenkassen einzahlen. Merkels „Wir schaffen das“ aus dem Jahr 2015, das in der sogenannten bürgerlichen Mitte als Akt der Humanität gefeiert wurde, war im Grunde ebenso ein bevölkerungspolitischer wie ökonomischer Schachzug. Wenn die Deutschen nicht selbst für genügend Nachwuchs sorgten, kamen natürlich Arbeitskräfte aus dem Ausland wie gerufen, so die durch die imaginierte Willkommenskultur verschleierte wirtschaftliche Logik. Das hatte nichts mit „großem Austausch“ zu tun, sondern mit politischem Opportunismus.
Zur paternalistischen Beratungsregelung kommt hinzu, dass die tatsächliche Umsetzung eines Schwangerschaftsabbruchs zunehmend schwieriger wird. Immer weniger Ärtzt:innen etwa führen Abbrüche durch. In Niederbayern z.B. gab es ein Dreivierteljahr lang niemanden, der Abbrüche vornahm. Das bedeutete, dass ungewollt Schwangere zwischen 150 und 200 Kilometer zurücklegen mussten, um in München oder Nürnberg die Abtreibung vornehmen zu lassen. Der erzkatholische Landkreis Passau hatte sogar seinen Kreis-Krankenhäusern ausdrücklich verboten, Abbrüche anzubieten. Bis 2020 hatte in ganz Niederbayern einzig der Passauer Arzt Michael Spandau Abbrüche angeboten. Er arbeitete bis 71, um die Versorgungslage aufrechtzuerhalten. In vielen anderen, vor allem ländlichen Gegenden, ist die Situation ähnlich prekär.
Jedoch auch in Städten wie Berlin kann es mitunter schwierig sein, eine Schwangerschaft abzubrechen, auch wenn das Leben der schwangeren Person auf dem Spiel steht. Die Autorin Sibel Schick wäre so beinahe an einer ungewollten Schwangerschaft gestorben, da sie eine Lungenembolie entwickelt hatte. Obwohl Schick von vornherein einen Abbruch hatte vornehmen lassen wollen, weigerten sich die Ärzt:innen, die Embolie sachgemäß zu behandeln, da dies den Embryo hätte schädigen können. Die Unversehrtheit des ungewollten Embryos wurde so über das Leben und die Selbstbestimmung Schicks gestellt. Restriktive Abtreibungsgesetze sind so immer auch feminizidale Gesetze: Der Tod von Schwangeren wird in Kauf genommen.
Der Abtreibungsparagraph ist auch heute noch Klassenparagraph. Eine von Lohnarbeit abhängige Person, die ungewollt schwanger ist, kann nicht spontan 200 Kilometer fahren, um den Abbruch durchführen zu lassen, ohne sich und gegebenenfalls ihre Familie in finanzielle Nöte zu bringen: Die Kosten für den Abbruch, die sich auf 350 bis 600 € belaufen, und das Zugticket sowie der etwaige Lohnausfall sind für manche Menschen existenzgefährdend. Hinzu kommt das verpflichtende Beratungsgespräch, das einen weiteren Tag kostet. Zuletzt kann so auch nicht diskret abgetrieben werden, was für manche Menschen eine ernste Gefahr für Leib und Leben darstellt. Gerade auch für geflüchtete Personen ist die gesetzliche Lage verheerend, da diese unter Residenzpflicht stehen und während des Asylverfahrens nicht arbeiten dürfen.
Ob dieser prekären Versorgungslage reicht es nicht, dass nur § 219a abgeschafft werden soll. Auch § 218 muss ersatzlos gestrichen werden! Was wir brauchen, ist eine völlige Entstigmatisierung und Entkriminalisierung sowie die Verbesserung der Versorgungslage von Schwangerschaftsabbrüchen. Eine komplette Entkriminalisierung führt übrigens nicht zum explosionsartigen Anstieg von Abtreibungen. Im Gegenteil: In den Ländern, in denen der Schwangerschaftsabbruch erlaubt ist, wird deutlich weniger abgetrieben als in Ländern, in denen dies nicht der Fall ist. So sind beispielsweise in Kanada, wo der Schwangerschaftsabbruch 1988 komplett legalisiert wurde, die Zahlen seitdem sogar gesunken. Je restriktiver die Abtreibungsgesetze, desto unsicherer und mitunter tödlicher sind Abbrüche für Schwangere. Die Legalisierung des Abbruchs schützt das Leben von Schwangeren und muss daher die Basis einer jeden emanzipatorischen Politik sein. Unsere Körper sind keine Gebärmaschinen, denen für bevölkerungspolitische und wirtschaftliche Ambitionen des Staates Gewalt angetan werden darf. Deshalb gilt es weiterzukämpfen - für die komplette Abschaffung dieser patriarchal-feminizidalen Gesetze. Weg mit § 219a und weg mit § 218!
Essay
09/12/2021, Marie Esterházy
Anmerkungen
1: Franz Gürtner (Hrsg.), Das kommende deutsche Strafrecht, Besonderer Teil, Berlin 19362, S. 113.